Die Reife-Reise: Stufe 3

Veröffentlicht am 13. Mai 2025 um 21:49

Nichts ist so machtvoll und spannend, als wenn wir verstehen, wie unsere innere Entwicklung vor sich geht. Vom impulsgetriebenen Kind weg gehen wir alle auf die Reise. Wie weit wir kommen, hängt davon ab, was uns am Weg begegnet und wie wir damit umzugehen gelernt haben. Die Reife bestimmt die Grenzen dessen, wie wir die Welt begreifen und entsprechend auch gestalten können. Sie ist der einzige Weg zu tieferer Zufriedenheit und Fähigkeiten, die mit Intelligenz und Bildung nicht erreicht werden können. Sie ermöglicht uns mit Emotionen besser umzugehen, Beziehungen zu anderen viel tiefer und umfassender erleben zu können, lässt uns in komplexen und schweren Situationen wesentlich bessere Entscheidungen treffen. Es ist der Faktor, der mit Führungs- und Strategiestärke auf hohen Positionen am stärksten korreliert. Es gibt keine Abkürzungen auf dieser Reise und wir alle sind geeint durch sie. Betrachten wir die erste Schritte gemeinsam - los geht´s.

Die 4 zentralen Entwicklungsaspekte

Wir nutzen auf unserer Reise durch unsere Reife eine Art Leitsystem – 4 Linien, die sich durch unser ganzes Leben ziehen, sich in diesem aber immer weiterentwickeln. Es ist auch eine kleine Denkaufgabe, denn in den Blog-Artikeln werde ich diese 4 Aspekte nicht nacheinander aufzählen. Ich wähle eine andere Logik der Darstellung und jene, die sich wirklich intensiver mit der allgemeinen und ihrer persönlichen ICH-Entwicklung beschäftigen wollen, können dies, indem sie versuchen die Passagen dann dieses 4 Leitaspekten zuzuordnen.

Charakter:
Wir entwickeln uns von impulsgetrieben zu wachsender Selbstregulierung, von kurz- zu weitsichtig steuernd.

Zwischenmenschlicher Stil:
Wir entwickeln uns von sehr manipulativ hin zur zunehmenden Berücksichtigung der Autonomie anderer. Mit zunehmender Reife können wir Verbindungen zu anderen immer wirkungsvoller und bruchsicherer gestalten und halten.

Bewusstseinsfokus:
Nach frühem Fokus auf äußere Dinge und eigene Bedürfnisse, richtet es sich im Verlauf mehr auf innere Aspekte (Motive, Gefühle, Wahrnehmungen, usw.) und im weiteren auf die persönlichen Entwicklung.

Kognitiver Stil:
Wir entwickeln uns von einem undifferenzierten, reduktiv-vereinfachendem und einseitigen Denken hin zu einem, das mehr Komplexität und Multiperspektivität zeigt, zulässt und damit eine Lösungsfähigkeit auf ganz neuen Levels zulässt.

Stufe 3 – Das Meiste bekommen

Fangen wir in den Kindertagen an. Wenn wir im Kindergarten- und Volkschulalter sind, befinden wir uns auf Stufe 3. Es ist eine sehr impulsbestimmte Zeit, in der sich unser Wesen vor allem darum dreht, das zu bekommen, was wir gerade wollen. Wenn wir etwas wollen, dann wollen wir es gleich. Bekommen wir es nicht, sehen wir das überhaupt nicht ein. Das ist unfair. Es steht uns zu und zwar jetzt! In diesem Stadium haben wir das Bedürfnis nicht, das Bedürfnis hat uns. Wir werden zu unserem Bedürfnis. Wird unser Bedürfnis ignoriert, fühlt sich das wie eine persönliche Zurückweisung an. Kleine Kinder haben anders Hunger als wir Erwachsenen. Sie leiden anders. Sie empfinden anders. Ihre Emotionen übernehmen sehr leicht ihr ganzes Wesen. Wer Kinder hat, kann ein Lied davon singen.

Erwachsene, die immer noch auf Stufe 3 sind, sind extrem selten – aber es gibt sie. Auch sie gehen davon aus, dass ihre Bedürfnisse wichtiger sind, als alles andere und alle anderen! Sie sind impulsgetrieben. Alles soll sich um sie drehen, wenn sie etwas wollen. Und auch wenn die Reife gering sein kann, kann die Intelligenz davon komplett unabhängig sehr hoch sein. Und wir können uns vorstellen, dass jemand, der komplett manipulativ und egoistisch ist und mit hoher Intelligenz ausgestattet ist, eventuell nicht zuträglich für eine ausgewogenen Gesellschaft ist, in der ein bestmöglicher Ausgleich aller Bedürfnisse stattfinden soll. Die hohe Intelligenz kann tatsächlich bisweilen sogar ein Hemmschuh weitere Reife-Schritte sein. Denn solange wir mit unserem Drängen, Manipulieren und Co unsere Bedürfnisse durchsetzen, gibt es keinen Impuls sich weiterentwickeln zu müssen. Erst wenn wir „anstehen“, testen wir, ob es eine grundlegend andere Handlungslogik geben könnte. Mir ist etwas ähnliches beim Klettern passiert. Ich ging mit meiner Cousine, die das wirklich drauf hat, klettern und zu Beginn, angespornt durch ihre anerkennenden Worte, flog ich die Wände hoch, alles aus roher Kraft. Doch plötzlich war die Kraft weg und ich hing in der Wand, „blaue“ Muskeln und keinen Plan. Dann bekam ich von Iris Tipps zur Klettertechnik und ich begann diese anzunehmen und dann ging auch wieder viel mehr.

Für Leute auf Stufe 3 ist primär das relevant, was ihren Bedürfnissen dient. Du bist ihr bester Freund, wenn sie etwas von dir brauchen. Wenn du ihnen wichtig ist (dann bist du quasi eines ihrer Bedürfnisse), dann ist ihre Zuwendung auch sehr unmittelbar und kraftvoll. Doch wenn sie erkennen, dass sie dich nicht brauchen oder etwas, was du ihnen gibst, wirst du uninteressant.

Es interessieren sie auch nicht wirklich die Gründe, warum sie etwas nicht haben können, außer sie können dann durch deren Umgehung doch einen Weg zum Ziel bahnen. Sie werden Wege suchen, finden oder einfordern, um ihr Wollen durchzusetzen. Lügen, hintergehen, schmeicheln, drohen, Charisma, usw. – alles wird eingesetzt. Stufe 3 hat noch keinen echten moralischen Kompass. Es ist uns in dieser Phase auch noch recht egal, was andere von uns denken. Die Anerkennung und Akzeptanz von anderen hat noch kein so großes Gewicht, weil wir hierfür noch gar nicht das passende innere Konzept haben. Meine Welt baut sich um das, was ich will bzw. mir wichtig ist. Man braucht gerade Erwachsenen 3ern nicht mit Sinn und Gerechtigkeit kommen – das halten sie eher für Schwäche und fehlenden Fokus. Sie können auch diese Konzepte noch gar nicht nachempfinden.

Okay, das klingt jetzt ja schlimm. Demnach wären ja unsere Kinder alle mitsamt kleine Monster. Das ist natürlich nicht so. Solange ihre Bedürfnisse gut befriedigt sind, treten die oben genannten Muster nicht so zu Tage. Wenn es ihnen gut geht, teilen sie auch gern mit anderen, kümmern sich um andere, usw. Aber sobald das, was ihnen wichtig ist, gefährdet wird, dreht sich ihr Verhalten extrem ruckartig. Bei Kindern sind wir das eher gewohnt. Bei Erwachsenen ist das wesentlich irritierender. Das Verhalten ist für reifere Persönlichkeiten dann schwer zu interpretieren, weil sie ja eine viel stärkere Impulskontrolle haben und ihre Bedürfnisse nicht so offensichtlich über die der anderen stellen.

Das ist ein grundsätzliches Problem. Wir glauben viel zu sehr, dass unser Gegenüber im Inneren den gleichen Mustern folgt wie wir. Doch andere Menschen so zu behandeln, wie wir behandelt werden möchten, klingt quasi geradezu nach dem Ideal des Kantschen kategorischen Imperativ, es macht aber keinen Sinn, weil jemand anders einfach anders als ich sein wird. Entsprechend macht es nicht Sinn andere so zu behandeln, wie wir das selbst gerne hätten. Und wenn wir ehrlich sind, wollen wir heute in vielerlei Hinsicht nicht mehr so behandelt werden, wie vor einigen Jahren - oder gar als Kinder.Selbst unser Blick auf uns selbst ist oft nicht klar. Unser Selbstbild ist oft ganz anders als das Bild, das andere von uns haben. Deshalb ist es gefährlich Annahmen zu treffen. Wir sollten gut hinsehen und vor allem gut zuhören, um eine Idee zu bekommen, wie unser Gegenüber wirklich tickt. Dann ist eine gute Verbindung möglich.

Doch um zu verstehen, wie jemand auf die Welt blickt und wie sich die Welt diesem entsprechend entfaltet, muss ich einschätzen können, wo sich diese Person auf der Reife-Reise befindet. Dann können wir wieder in Verbindung treten und einander verstehen. Hierfür ist auch das Institut geschaffen worden.

In Stufe 3 können wir unsere Gefühle noch kaum bis gar nicht reflektieren. Das macht für uns auch noch gar keinen Sinn. Es gibt etwas, was ich will – und Ende. Da ich aber das eigene Innenleben nicht verstehe, habe ich automatisch keine Vorstellung vom Innenleben anderer. Die mir mögliche Empathie erstreckt sich nur auf die paar Dinge, Leute die für mich unmittelbar wichtig sind. Ich verstehe z.B. dass jemand anderer auch ein Eis haben will, weil ich diese Empfindung auch sehr gut kenne. Ich verstehe, dass es weh tut, wenn jemand blutet, weil ich das schon an mir selbst erfahren musste. Wir können bei anderen nur nachempfinden und damit eine empathische Verbindung aufbauen, wenn das, was beim anderen geschieht, in uns selbst schon eine Entsprechung hat.

Wenn wir von unseren Kindern Empathie einfordern, können wir auch von einem Farbblinden einfordern, gefälligst das Rot eines Apfels zu beschreiben. Das ist ein Satz, den ich mir mehr als einmal selbst sagen musste. Von einer höheren Reifestufe runterzurutschen, wenn wir in Angst und Wut abgleiten, ist ganz normal. Aber es ist unmöglich innerlich jemanden zu verstehen, der eine deutlich reifere Sicht auf die Welt hat. An unseren besten Tagen können wir es intellektuell durchaus. Es macht dann alles Sinn, was die andere Person sagt, wenn sie „reife“ Aussagen macht. Aber hier schafft diese Person quasi einen Gesprächsraum, in den wir eintreten können, den wir aber alleine weder schaffen noch halten können. So plausibel, einleuchtend und wertvoll uns die Erkenntnisse im Gespräch waren, es ist schwer sie selbst danach wieder zu rekonstruieren. Es ist, als wenn dir ein Tennis-Trainer eine Bewegung zeigt, indem er den Arm führt. Es fühlt sich rund und richtig an. Diese Erkenntnis ist auch ein extrem wichtiges Element der weiteren Entwicklung. In der ICH-Entwicklung sprechen wir aber erst davon, diese Reife zu besitzen, wenn wir sie nicht nur kennen oder verstehen, sondern wenn es unser ganz normales alltägliches Verhalten ist.

Es gäbe noch zig spannende Aspekte zu dieser Stufe, doch viele der zentralsten haben wir kennen gelernt. Wenn wir nochmal auf den Text schauen, gelingt es uns vielleicht die Aussagen den 4 Leitaspekten, die wir zu Beginn behandelt haben, zuzuordnen. Wer in eine eigene Entwicklung aktiv gehen will, dem sei diese kleine Denk- und Entwicklungsübung ans Herz gelegt.

Unabhängig sehen wir uns auf der absolut spannenden Stufe 4, wo der Gemeinschaftsinn seine volle Ausprägung erfährt und wir normalerweise ab unserer Teenagerzeit befinden.