Reife-Schmerzen

Veröffentlicht am 5. September 2025 um 20:50

Dieses Mal widmen wir uns den Schmerzen, die JEDER von uns erleidet, wenn wir aus der Stufe IE4 – die Stufe des Zugehörigkeitswunsches – hinaus zu reifen. Jede Stufe ist eine Cocon, in dem wir innerlich wachsen. Wenn das Leben aber noch mehr von uns verlangt, als uns diese innere Größe und Kraft ermöglicht, müssen wir den Cocon sprengen und darüber hinauswachsen. Das klingt einfach? Doch es ist, als würden wir von einem bröckelnden Podest in die Dunkelheit springen, unsicher, ob dort überhaupt etwas ist, auf dem wir landen werden. Ob es Zeit wird zu springen, rufen uns unsere inneren Schmerzen zu!

IE 4 – to be part of

IE 4 ist geprägt von Konformität, Zugehörigkeit und Loyalität. Die Anerkennung durch unsere Bezugspersonen ist die Essenz unseres Selbstwerts, sie ist das Fundament unserer Stärke. Unsere Welt in IE 4 ist geordnet durch Regeln, Werte und klare Autoritäten. Wir wollen dazugehören und Teil einer größeren Ordnung sein, z.B. Vereine, Freundeskreis, Sportmannschaften, Musik, Umweltbewegungen, ideologische Gruppierungen, usw. Unseren Status definieren wir darüber, wo wir dazugehören "dürfen/können". Natürlich haben wir auch individuelle Interessen und Bedürfnisse, doch die Triebfeder, wenn wir stark in IE 4 sind, ist diese Zugehörigkeitsdynamik.

Wenn unser unbedingter Wunsch dazuzugehören zu bröckeln beginnt, entsteht nicht nur Unsicherheit – sondern oft auch existenzielle Angst, weil das Ich sich noch nicht als eigenständiger Träger von Sinn erlebt. Bisher hat uns die Gruppe und die Zugehörigkeit zu ihr großteils unseren Sinn gegeben – doch was sind wir ohne die Gruppe?

Woran merken und leiden wir, wenn wir aus der Stufe IE4 herausreifen?

  1. Verlust der äußeren Autorität
     „Ich weiß nicht mehr, wem ich glauben soll.“
  • Die Person beginnt, Autoritäten zu hinterfragen – Lehrer, Führungskräfte, religiöse oder kulturelle Instanzen, denen sie bisher stark geglaubt und kaum angezweifelt hat. Jene, die uns als bisher Richtung und Orientierung geben haben, vermögen dies nicht mehr so klar. Wir hinterfragen mehr und mehr, was von ihnen kommt – und das nimmt uns den zentralen Halt im Leben.
  • Die bisherige Sicherheit, durch „richtige“ Zugehörigkeit geschützt zu sein, beginnt zu bröckeln. Wir fühlen uns mehr allein. Bisher definierten wir uns stark darüber, wo wir dazugehörten (Vereine, Freundeskreis, Kirche,…), doch nun fühlen wir, dass das nicht alles ist. Wenn uns wer fragt, wer wir sind, würden es uns noch sehr schwer fallen unser Ich zu beschreiben, doch es wäre leicht zu sagen, wo wir uns zugehörig fühlen.  
  • Es entsteht ein Gefühl von Verwirrung und Misstrauen, oft begleitet von Schuldgefühlen. Wir wollen ja eigentlich loyal sein und unser Zweifel an jenen, die uns bisher so wichtig waren, nährt das schlechte Gewissen.

Das zeigt uns unser Schmerz: Das Ich beginnt, sich zu lösen – aber hat noch keine eigene Bewertungslogik. Bisher bewerteten wir ja die Welt aus der Sicht unserer Bezugsgruppe bzw. -personen, übernahmen teilweise unreflektiert deren Meinungen. Die Welt wirkt, ohne diese einfachen, klaren Denkraster, plötzlich unsicher und widersprüchlich. Es ist, als hätten wir ein ganz klares Schema, durch das wir die Welt sehen und ordnen können. Nun verlieren wir dieses Schema, ohne bereits selbst eines für uns entwickelt zu haben.

  1. Spannung zwischen Loyalität und Autonomie
    „Ich will dazugehören – aber ich will auch ich selbst sein.“
  • Die Person spürt den Wunsch nach Individualität, aber hat Angst, dadurch die Zugehörigkeit zu verlieren. Wir merken mehr und mehr, dass wir nicht mehr so einfach der Meinung in Gruppen zustimmen – aber dagegen zu sprechen fällt noch sehr schwer, weil wir nicht ausgegrenzt werden wollen.
  • Entscheidungen werden innerlich zerrissen – zwischen dem, was „wir tut“ und dem, was sich „richtig anfühlt“. Unsere Gruppe handelt manchmal anders, als wir es für richtig halten. Unser innerer Kompass ist nicht mehr ident mit dem Gruppenkompass – somit zerrt es uns in manchen Situationen in verschiedene Richtungen. Das verwirrt und schafft innere Scherkräfte.
  • Es entsteht ein Gefühl von innerer Zerrissenheit, oft begleitet von sozialer Unsicherheit, denn würde ich meine Meinung ehrlich sagen, würden mir vielleicht meine Freunde wegstoßen, auslachen oder ausgrenzen. Doch das bedeutet auch, dass wir uns immer noch aus der Sicht der Gruppe bewerten und somit Gedanken und Empfindungen, die wir als „ungehörig“ und „unpassend“ empfinden, vor der Gruppe verbergen. Damit fühlt es sich an, als wären wir im Inneren falsch. Wären wir richtig, würden wir doch nicht abweichende Gedanken und Gefühle haben.

Das zeigt uns unser Schmerz IE 4 lebt von Zugehörigkeit – aber der Ruf nach Autonomie wird lauter. Der Übergang zu IE 5 verlangt, sich selbst als Gestalter zu erleben – was noch nicht möglich ist.

  1. Beginnende Selbstreflexion – ohne Struktur

„Ich frage mich, wer ich eigentlich bin – doch wie frage ich richtig danach?“

  • Die Person beginnt, sich selbst, also ihr Innenleben tiefer zu beobachten – aber ohne klare Sprache oder Konzepte. Das klingt komisch, aber bisher haben wir viel über andere nachgedacht und was die über uns denken. Wenn wir Kleidung ausgesucht haben, haben wir uns mehr gefragt, ob das in der Gruppe eh gut ankommt. Wenn es uns gefiel aber wir waren uns bei der Gruppe nicht sicher, haben wir es maximal angezogen, wenn wir sicher waren, dass es niemand sieht. Und das gilt selbst für Meinungsäußerungen, worüber wir lachen, worüber wir uns ärgern – wir prüfen immer, ob es eh dem entspricht, was den Gruppennormen entspricht. Über unser tieferes Innenleben haben wir – außer aktuelle Bedürfnisse (was ich jetzt will – wie es mir jetzt geht) wenig nachgedacht.
  • Daraus entstehen mehr und mehr Fragen nach Identität, Sinn und Richtung – aber sie bleiben diffus. Wir möchten erkennen, wer wir sind und wofür wir da sind. Aber am Anfang dieses Findens ist es wie ein Tasten im Nebel. Nicht, dass wir keine Antworten haben. Wir haben lange noch nicht einmal die richtigen Fragen.
  • Es entsteht ein Gefühl von Unruhe und Suchbewegung, oft begleitet von Rückzug oder Überanpassung. Gerade im Übergang von IE4 zu IE5 gibt es Phasen, wo wir mir selbst sein wollen, doch dann fühlen wir uns wieder verloren und allein, also suchen wieder den Rückhalt von Gruppen und passen uns mehr an.

Das zeigt uns unser Schmerz: Das Ich wird zum Objekt der eigenen Wahrnehmung – ein Meilenstein. Wir können nun erstmals solide über unser Innenleben nachdenken. Wir können uns fragen, warum wir etwas schlecht finden – ob das unsere Meinung ist oder wir es nur blind von der Gruppe übernommen haben. Aber ohne die kognitive Struktur von IE 5 wirkt diese Reflexion verunsichernd statt befreiend.

  1. Wertkonflikte ohne Lösung

„Ich will ehrlich sein – aber ich darf niemanden verletzen.“

  • Die Person erlebt innere Konflikte zwischen verschiedenen Werten – z. B. Ehrlichkeit vs. Harmonie. Das gemeine ist, dass wir noch nicht die Fähigkeit haben beides miteinander zu vereinen. Wir gehen in die Konfrontation oder geben nach. Wie wir verschiedene Perspektiven zulassen und verbinden können, ist noch 2 Stufen entfernt.
  • Es fehlt die Fähigkeit, Werte kontextuell zu gewichten oder zu relativieren. Bisher haben wir die Werte unserer Gruppe übernommen. „Die Erwachsenen sind doof, sie haben den Planeten ruiniert.“ „Unsere Musikrichtung ist die einzig coole – alles andere ist dämlich – und somit alle, die das gut finden.“ Diese extrem simplen, reduzierten und vereinfachenden Sichtweisen machen es sehr einfach bestimmte Position zu beziehen. Doch nun merken wir eben, dass diese Sichtweisen komplett ohne Kontext und tieferem Verständnis sind – doch es überfordert uns noch gänzlich diese Tiefe und Komplexität selbst zu schaffen, oft können wir sie nicht einmal gut nachvollziehen, wenn andere es uns erklären.
  • Nach dem Gefühl moralischer Überlegenheit, die sich aus unserer Gruppendynamik ergeben hat, entsteht nun, wo der Gruppeneinfluss bröckelt, ein Gefühl von moralischer Überforderung. Diese wird oft begleitet von Rückzug oder Schuld, denn bisher waren wir eben sehr bestimmt in unserer Weltsicht. In unserer Gruppe haben wir unsere Meinungen immer gegenseitig verstärkt. Gerade in der Teenager-Zeit bis in die 20er ist das extrem häufig. Es kann aber auch lebenslang so sein, dass wir uns in einem selbstverstärkenden System bewegen, in dem ewig die gleiche Meinung verstärkt wird und abweichendes Denken so hart verurteilt wird, sodass niemand wagt tiefere Sichtweisen einzubringen.

Das zeigt uns unser Schmerz: IE 4 denkt in festen Werten – aber die Welt beginnt, komplexer zu erscheinen. IE 5 würde eine situative Ethik erlauben – aber die ist noch nicht verfügbar.

  1. Angst vor Ausgrenzung durch Individualität

„Wenn ich anders denke, verliere ich meine Gruppe.“

  • Die Person beginnt, eigene Gedanken zu entwickeln – aber hat Angst, dadurch die Zugehörigkeit zu verlieren. So lernen wir vielleicht zufällig jemanden einer sozialen Schicht kennen, die unsere Gruppe ablehnt (die Schnösel, die Armen, die Ausländer, die Religiösen, die Mädchen, die Jungs, etc.). Doch die Person, die wir kennenlernen ist nett, lustig und wir mögen sie. Das verträgt sich nicht mit dem Bild, das in der Gruppe transportiert wird. Wir würden die Personengruppe noch eigentlich gern verteidigen, weil wir erlebt haben, dass es darunter tolle Leute gibt. Zumindest würden wir gerne sagen, dass wir nicht alle über einen Kamm scheren dürfen. Doch wir spüren, dass die Gruppe uns dann eventuell verstößt und wir sind noch nicht sicher genug in uns selbst, um dieses Risiko einzugehen. Die Gruppe oder Bezugspersonen geben uns Halt im Leben. Würden sie sich gegen uns wenden, fühlt sich das an, als würde man uns von der Erde ins endlose, kalte Weltall stoßen. Deshalb leben wir in diesem latenten Frust, den dann meistens jene Leute abbekommen, denen wir uns komplett sicher sind. Liebe Eltern, sehr oft seit das leider ihr.
  • Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen Anpassung und Authentizität, das über die Zeit mehr und mehr zunimmt, bis wir zu uns stehen und in Kauf nehmen, wenn die Gruppe das nicht verträgt. Doch diese inneren Welten, die gegeneinander kämpfen, sind wie tektonische Platten und wenn die Spannung zu groß wird, dann kommt es zum emotionalen Ausbruch, Dramen oder starken inneren Rückzug – weil man nicht weiß, wie man mit sich und der Welt umgehen soll. Wenn der Schmerz im hin und her zu groß ist und wir das Gefühl bekommen, die Gruppe hält uns zurück, gehen wir unseren eigenen Weg, ohne die Gruppe mit unserem reiferen Ich unbedingt zu konfrontieren und finden dann vermutlich neue Bezugspersonen, mit denen wir so reden können, wie es unserem reiferen Ich entspricht. An ihnen können wir vielleicht sogar weiterwachsen, weil sie in manchem ein wenig voraus sind.
  • Oft wird die eigene Entwicklung unterdrückt, um sozialen Schutz zu behalten. Das verlängert natürlich auch die Wachstumsschmerzen. Und doch ist es normal, es geht nicht ohne diese Spannung.

Das zeigt uns unser Schmerz: IE 4 lebt von Gruppenidentität – aber das Ich beginnt, sich zu differenzieren. Der Übergang zu IE 5 verlangt Mut zur Abgrenzung, was sich bedrohlich anfühlt.

  1. Beginnende Kritik am System – ohne Alternativen

„Ich sehe, dass vieles nicht stimmt – aber ich weiß nicht, was besser wäre.“

  • Die Person erkennt erste Widersprüche im sozialen, beruflichen oder kulturellen System. Selbst wenn alle immer wieder sagen, wie es eben sein muss und schon immer war – ins uns reifen andere Perspektiven oder zumindest Zweifel, ob es da nicht doch was anderes gibt. Teilweise sehen wir ganz klar, dass etwas nicht so ist, wie es von unserer Bezugsgruppe oder -person behauptet wird. Diese scheinen die Tatsachen aber zu ignorieren. Doch wie lange gelingt uns das weiterhin mitzumachen?
  • Es entsteht Frustration – aber noch keine eigene Lösungskompetenz. Und das ist eine gemeine Situation. Wir fühlen, dass das irgendwie alles Mist ist, aber es beginnt erst die Fähigkeit zu wachsen, um hier solide und klare Alternativen zu entwickeln. Wir sind es ja bisher gewohnt gewesen, das Denken stark vom Denken unserer Bezugspersonen leiten zu lassen. Nun ist die Leitung weg und jetzt brauchen wir einen neue Denkausrichtung. Was denken wir selbst eigentlich über …?
  • Die Kritik bleibt oft emotional und diffus, ohne konstruktive Richtung. Dies äußerst sich auch in der Art, wie Gruppen in IE4 agieren. Sie schimpfen über Dinge, ohne Kontext und ohne jeden vernünftigen Lösungsansatz. Aber sie verdammen mit großer Leidenschaft das Bestehende. Deshalb sind enge Gruppierungen auf dieser Reife-Stufe praktisch immer destruktiv, ob das politisch, ökologisch oder sonstwie motiviert ist. Unter einem oberflächlichen Banner höherer Werte, wird selbst vor Gewalt nicht zurückgeschreckt, um das Böse zu vernichten.

Das zeigt uns unser Schmerz: IE 4 vertraut dem System – aber das Vertrauen beginnt zu bröckeln. Die beobachtbare Welt scheint nicht mehr so klar dem Bild zu entsprechen, das uns von ihr durch die Gruppe gezeichnet wurde. IE 5 - Fähigkeiten würden Gestaltung ermöglichen – aber die Selbstwirksamkeit ist noch nicht ausgebildet.

 

Die Botschaft des Reife-Schmerz:

Der Übergang aus IE 4 ist der Moment, in dem das Ich beginnt, sich selbst zu entdecken – aber noch nicht weiß, wie. Es ist ein Aufwachen ohne Orientierung, ein Ruf nach Tiefe, die wir aber erst beginnen selbst zu begreifen. Es ist die Spannung zwischen dem, was wir beginnen zu meinen und der dominierenden Gruppenmeinung. Es ist ein Auflehnen gegen Autorität ohne echte Substanz aber dem Willen endlich ernst und als eigene Personen wahrgenommen zu werden. Es ist ein Ruf, dass wir uns vom uns zum Ich bewegen wollen, der sich oft als Unruhe, Angst, Frust oder Schuld zeigt. Und genau hier braucht es Begleitung, Sprache und Resonanz – nicht als Anleitung, sondern als Spiegel.